Wirtschaft in Sachsen

aktuell – kritisch – hintergründig – der Blog zum Buch von Christian Wobst

Deutschland auf dem Weg zur Rentnerrepublik

Donnerstag, 21. Januar 2010

Senioren in Nizza

Senioren

Chemnitz. In keiner anderen Region Europas leben 2030 mehr Rentner im Vergleich zur Gesamtbevölkerung als in Südwestsachsen – zumindest wenn man der Prognose des Statistischen Amtes der Europäischen Gemeinschaften, kurz Eurostat, glaubt. „Dass die Gesellschaft altert ist ein genereller Trend, der seit langem bekannt ist und der auch keine europäische Besonderheit darstellt, sondern sich weltweit zeigt“, sagt Prof. Dr. Bernhard Nauck, Inhaber der Professur Allgemeine Soziologie I der TU Chemnitz. Er bestätigt, dass sich die Situation in Chemnitz derzeit besonders deutlich zeigt, blickt aber nicht pessimistisch in die Zukunft: „Chemnitz hat einen Strukturwandel durchzumachen, wie er beispielsweise auch im Ruhrgebiet seit den 1960-er Jahren verläuft – und dort sieht man langsam Licht. Es ist also möglich, eine solche Situation erfolgreich zu bewältigen.“ Während der Professor das Chemnitzer Bild ein bisschen klarer rückt, schweigt die Stadt der Moderne in ihrem Presseportal zu den aktuellen Entwicklungen.Bei den Prognosen der Bevölkerungsentwicklung müsse man immer alle vier Mechanismen beachten, erklärt Nauck: die Sterbefälle und die Geburten sowie die Zu- und die Abwanderung. „Daran, dass die Lebenserwartung weiter steigt, wird niemand etwas ändern. Auch den Einfluss des Staates auf die Geburtenrate sollte man nicht zu optimistisch einschätzen. Hier zeigt der europaweite Vergleich, dass auch  unterschiedliche Ansätze der Familienpolitik kaum etwas an zu niedrigen Kinderzahlen ändern können“, schätzt Nauck ein und ergänzt: „Bei der Abwanderung ist vor allem in Chemnitz in Zukunft mit einer Entspannung zu rechnen, denn die geburtenschwachen Jahrgänge ab 1990 kommen jetzt auf den Arbeitsmarkt und haben hier beste Chancen. Es ist also für sie attraktiv, in der Region Chemnitz zu bleiben.“ Im bundesweiten Vergleich gering seien hingegen die Zahlen bei der Zuwanderung, vor allem aus internationaler Perspektive betrachtet. „Deutschland ist insgesamt für ausländische Fachkräfte immer nur zweite Wahl, sie strömen aus verschiedenen Gründen mehr in die angelsächsischen Länder. Hier besteht akuter Handlungsbedarf. Vor allem Ostdeutschland muss wesentlich attraktiver für Zuwanderer werden. Beim Kampf um die klugen Köpfe sind besonders auch Universitäten gefragt. Allerdings sind auf diesem Gebiet Erfolge nicht kurzfristig zu erzielen.“
Nauck sieht bei der Bevölkerungsentwicklung in der Region Chemnitz einen weiteren wichtigen Aspekt, der in Zukunft stärker berücksichtigt werden müsste: „Bisher hat die Politik in Chemnitz vor allem auf die Reindustrialisierung gesetzt – was fehlt, sind höher qualifizierte Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor. Die wären aber Voraussetzung, um auch mehr Frauen in der Region zu halten, denn diese sind in den vergangenen Jahren
besonders stark abgewandert.“ Es sollten attraktive Arbeitsplätze für beide Geschlechter geschaffen werden, sonst müsse man sich auch nicht über geringe Geburtenzahlen wundern, so Nauck. Allerdings haben im November die Autoren der Studie Frauen machen Neue Länder gezeigt, dass nicht überwiegend Frauen aus Ostdeutschland abwandern. Lediglich in der Gruppe der 18 bis 25 Jährigen ist ihre Abwanderung besonders hoch. Die Sachsen sind dabei offensichtlich am stärksten mit ihrer Heimat verwurzelt: „Sachsen erweist sich als das Bundesland, aus dem junge Erwachsene zwischen 18 und 25 Jahren viel seltener abwandern als aus anderen neuen Bundesländern. Sowohl Frauen als auch Männer haben mit circa 85 Prozent eine im Vergleich zu den restlichen Ländern sehr hohe »Dableibequote«“, schreiben die Autoren. Sabine Zimmermann, Bundestagsabgeordnete der Linken und DGB-Regionsvorsitzende für Südwestsachsen, macht im Gespräch mit der „Sächsischen Zeitung“ weiter Werbung für die Abwanderung, schließlich locken im Westen die besseren Gehälter. Sie sorgt damit dafür, dass sich ihre eigene Prognosen, die von einer Verschlimmerung der Situation ausgehen, irgendwann tatsächlich bewahrheiten.

Mit mehr Toleranz gegen den Trend

„Die Prognose, dass gerade in Chemnitz die Bevölkerung immer älter wird, tritt wahrscheinlich wirklich ein. Vom heutigen Zeitpunkt aus betrachtet, sieht es für die Stadt nicht gut aus“, schätzt auch Prof. Dr. Christine Weiske ein, Inhaberin der Professur Soziologie des Raumes an der TU Chemnitz.
Allerdings seien demographische Prozesse äußerst zäh – sie entstünden über Jahrzehnte hinweg. „Deshalb ist diese Prognose in keiner Weise neu und auch die Chemnitzer Kinder- und Jugendpolitik versucht nicht erst seit heute, dem entgegenzusteuern. Ich bin nicht so zahlengläubig, dass ich der Prognose der ältesten Stadt in Europa zu viel Bedeutung beimessen würde“, so Weiske. Aber die Meldung schrecke natürlich auf – was sich auch positiv auswirken könne, indem nun die Vermittlung zwischen den Generationen stärker ins Blickfeld rücke und manche Ideen endlich vorangetrieben würden. „Chancen würde zum Beispiel das so genannte Experimentelle Karree bieten“, sagt Weiske und ergänzt: „Es ist fatal, dass diese Soziokultur nicht stärker gepflegt wird und keine Lobby in der Stadt hat. Viele Menschen in Chemnitz müssen sich erst noch öffnen gegenüber fremden Lebenskonzepten. Sie müssen mehr Toleranz entwickeln.“

Fraglich ist allerdings, ob Toleranz auch auf dem wichtigen Gebiet der medizinischen Versorgung zu Erfolgen führt. Erst Mitte Januar machte die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen darauf aufmerksam, dass es im Freistaat mehr als 500 offene Arztstellen gibt.

Immerhin: Die Technische Universität Chemnitz biete jungen Leuten Zukunftsperspektiven und sei deshalb ein wichtiger Aspekt bei den Bemühungen um eine ausgeglichene Bevölkerungsstruktur. Ebenfalls in der Studie „Frauen machen Neue Länder“ hatten die Autoren darauf hingewiesen, dass der Anteil Schulabgängerinnen und Schulabgänger mit allgemeiner Hochschulreife in Ostdeutschland inzwischen wesentlich höher ist als in Westdeutschland, dies sich aber nicht in den ostdeutschen Studienanfängerzahlen niederschlägt. Die Gründe nach Meinung der Autoren:

Und unattraktiv wird eine Stadt in den Augen vieler junger Leute vor allem dann, wenn sie sich nur von älteren Menschen umgeben sehen und spezielle Angebote für die eigene Generation vermissen.

Einen großen Schritt gehe Chemnitz Weiske zufolge derzeit bei der Bewerbung als „Stadt der Wissenschaft 2011„: „Die Vermittlung zwischen den Generationen ist ein
wichtiger Bestandteil der Bewerbung. Hier sind viele Themen bereits angesprochen und Lösungswege werden gesucht“, sagt Weiske und fasst zusammen: „Die Lage ist durchaus ernst, aber auf keinen Fall aussichtslos. Chemnitz geht nicht unter, deshalb sollte auch die Bevölkerung nicht pessimistisch in die Zukunft blicken.“

Foto: Rainer Sturm © Pixelio.de
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