Wirtschaft in Sachsen

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Wirtschaftsforscher ziehen positive Bilanz 20 Jahre nach dem Mauer­fall

Donnerstag, 27. August 2009

Aufschwung

Aufschwung

Berlin. Für den Aufbau Ost sind enorme finanzielle Mittel eingesetzt wor­den – sie haben sich aber auch bezahlt gemacht. Das ist eines der zentralen Ergeb­nisse einer ökonomischen Bilanz 20 Jahre nach dem Mauerfall, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) heute in Ber­lin veröffentlichte. Die Wissenschaftler kommen darin zu einer positiven Gesamtbe­wertung der wirtschaftlichen Lage im Osten Deutschlands. „Bei der Produktivi­tät und bei der Wettbewerbsfähigkeit hat es immense Fortschritte gegeben, die Erneuerung der Infrastruktur ist weit fortgeschritten“, sagte DIW-Präsident Klaus F. Zimmermann. „Außerdem ist es nach einer fast vollständigen De-Industrialisierung gelungen, wieder ein beachtliches industrielles Wachstum zu erreichen.“In der Wirtschaftspolitik forderte Zimmermann eine stärkere Konzentration auf die Struktur­probleme Ostdeutschlands: „An erster Stelle stehen die zu geringe Inno­vations­kraft und die demographische Schrumpfung der nachwachsenden Generatio­nen: Diese Probleme müssen wir angehen, wenn Ostdeutschland wirtschaft­lich auf eigenen Beinen stehen soll – mit weiteren Investitionen in Beton statt in Köpfe wird das aber nicht funktionieren.“
„Die allgemeine Einschätzung der wirtschaftlichen Lage in den neuen Bundesländern krankt an überzogenen Erwartungen noch aus der Wendezeit und falschen Vergleichsmaßstäben,“ sagte DIW-Präsident Klaus F. Zimmermann . „Gemessen an dem, was an wirtschaftlicher Substanz vor 20 Jahren vorhanden war, ist das Glas weder halb voll noch halb leer, sondern mindestens zwei Drittel voll.“ Er trat auch der Auffassung entgegen, die wirtschaftliche Aufholjagd des Ostens sei abgebro­chen oder ins Stocken geraten. „Die Produktivität, die Exportorientierung und gene­rell die Wettbewerbsfähigkeit entwickeln sich weiter stetig nach oben,“ sagte Zimmermann bei der Vorstellung der ökonomischen Bilanz in Berlin.

Niedrigere Einkommen, aber hoch produktiv – kein Widerspruch

DIW-Forscher Karl Brenke sagte, man dürfe sich nicht der Illusion hingeben, dass die ostdeut­sche Wirtschaftsstruktur in wenigen Jahren jener im Westen gleichen werde. Schon die räumlichen und geographischen Gegebenheiten sprächen dagegen, dass Ostdeutsch­land  zu wirtschaftlich starken Ländern wie Baden-Württemberg aufschließe. „Man sollte end­lich Abschied nehmen von simplen Ost-West-Vergleichen, und den Blick vielmehr auf ein­zelne Regionen richten,“ so Brenke.
Eine solche auf einzelne Regionen ausgerichtete Wirtschaftspolitik sollte sich mehr auf die „weichen“ Standortfaktoren in Ostdeutschland konzentrieren. „Voraussetzung für die künftige Wettbewerbsfähigkeit  sind gut ausgebildete Menschen. Deshalb muss mehr auf das Human­kapi­tal gesetzt werden,“  so DIW-Präsident Zimmermann. Angesichts der deutlichen Fortschritte bei der Modernisierung der Infrastruktur und der damit einhergehenden Verbes­se­rung der Standortbedingungen seien indessen Unternehmenssubventionen immer weniger nötig. Überdies wäre bei den öffentlichen Investitionen inzwischen angemessen, den Bedarf in ganz Deutschland insgesamt in den Blick zu nehmen.

Wirtschaftspolitik soll sich auf Innovationen konzentrieren

Auch Karl-Heinz Paqué, Wirtschaftsforscher an der Universität Magdeburg und früherer Finanz­minister Sachsen-Anhalts, plädiert für ein Abrücken von der übermäßigen Orientie­rung am Ausbau der ostdeutschen Infrastruktur. „Stattdessen sollte die Wirtschaftspolitik mehr auf die Verbesserung der Innovationsfähigkeit setzen: Nur dadurch kann die noch beste­hende Produktivitätslücke verringert werden.“   Die Steigerung der Innovationskraft brauche allerdings Zeit und die Wirtschaftspolitik deshalb einen langen Atem.
„Im Vordergrund muss die regionale Förderung des unternehmerischen und technischen Marktwissens stehen“, so Paqué. Er fordert zweierlei: „Zum einen brauchen wir eine viel stär­kere Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Forschungseinrichtungen und privaten innovations­fähigen Unternehmen. Zum anderen muss es weitergehen mit erfolgreichen Initiati­ven regionaler politischer Akteure zur Ansiedlung und Erweiterung industrieller Produktions­stätten.“ Auch der Bund sei dabei gefordert. Er muss  bei der Vergabe von For­schungsmitteln für allfällige Exzellenzförderung auch die industriepolitischen Interessen des Ostens berücksichtigen. Paqué verwies dabei auf die Standortvorteile Ostdeutschlands bei der Industrieansiedlung: „Die Infrastruktur ist exzellent, es gibt gut ausgebildete Arbeitskräfte, leis­tungsfähige Wissenschaftseinrichtungen und einen für deutsche Verhältnisse außerordent­lich flexiblen Arbeitsmarkt.“

„Schulabgänger ohne Abschluss kann sich der Osten nicht mehr leisten“

Eine große Herausforderung  stellt die demographische Entwicklung Ostdeutschlands dar. Bisher standen Abwanderungen gen Westen im Focus. „Viel gewichtiger ist aber der drasti­sche Geburtenrückgang nach der Wende, durch den die nachwachsende Generation dras­tisch schrumpft,“ konstatiert Joachim Ragnitz vom Ifo-Institut in Dresden. „Bereits jetzt machen sich die Folgen auf dem Arbeits- und insbesondere auf dem Lehrstellenmarkt bemerk­bar.“ In der Zukunft könnte die Entwicklung der Wirtschaftsleistung und der Produktivi­tät gedämpft werden.
Die demographische Entwicklung ist unumkehrbar ist: Deshalb können wir es uns nicht län­ger leisten, junge Menschen oder Zuwanderer als künftige Arbeitskräfte wegen schlechter Ausbildung oder fehlender Schulabschlüsse zu verlieren,“ so Joachim Ragnitz. „Vor allem ist es erforderlich, dass die Älteren länger im Erwerbsleben bleiben.“ Dazu bedarf es begleiten­der Maßnahmen wie die Etablierung eines Systems lebenslangen Lernens. Hilfreich wären zudem Initiativen zur Existenzgründung. Auch die bessere Qualifizierung junger Menschen bleibt eine Aufgabe. „Die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss ist im Osten besonders hoch  – jeder einzelne von Ihnen steht für vergebene Entwicklungschancen für die jungen Menschen wie für die Gesellschaft,“ sagte Ragnitz.

Ostdeutschland muss auf Zuwanderung setzen

Mit Blick auf die demographischen Probleme sprach sich DIW-Präsident Zimmermann für einen anderen Umgang mit Zuwanderung aus. „Die Menschen müssen sich von dem Irrglau­ben verabschieden, dass Zuwanderer ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen – das Gegenteil ist richtig.“ Ostdeutschland müsse die Vorteile der EU-Osterweiterung auch in Sachen Freizügig­keit sehen. Gerade der Osten brauche gut ausgebildete Zuwanderer: Die Nähe zu Polen und Tschechien sollte auch aus diesem Grund als Standortvorteil gesehen werden. „Warum sollen hochqualifizierte Migranten ihre Fähigkeiten eigentlich nur in Rosenheim oder Frankfurt/Main und nicht auch in Rostock oder Frankfurt/Oder beweisen?“

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